Wir brauchen einen zeitgemäßen Begriff der Nation – die „Bekenntnisnation“. Eine Nation, die alle einschließt, die sich zu ihr bekennen – gleich welcher Herkunft, welcher Hautfarbe und welcher Religion.
Wir müssen wieder über die Nation reden. Zwar stimmt es, dass im Zeitalter der Globalisierung die nationalen Handlungsspielräume eingeengt sind. Richtig ist auch, dass im Zuge der europäischen Integration einstige nationale Souveränitätsrechte auf die Ebene der EU verlagert wurden. Ebenso ist unbestreitbar, dass bestimmte Probleme heute nur noch mit internationaler Kooperation zu lösen sind. Das heißt aber längst nicht, dass der Nationalstaat bereits überwunden und damit obsolet geworden ist. Im Gegenteil: Zentrale Politikbereiche sind in Europa und weit darüber hinaus nach wie vor auf der Ebene des Nationalstaats angesiedelt. Und gerade im Zeitalter von Globalisierung und Migration gewinnt er – so scheint es – an Bedeutung für die politische Identität der Menschen.
Dies zu akzeptieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, damit tun sich in Deutschland viele erkennbar schwer. Sie meiden diesen Begriff, weil er durch unsere Geschichte belastet ist. Natürlich hängt dies mit jenen schrecklichen zwölf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen, die wahrlich weit mehr waren als nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Sie waren ein bis heute unbegreiflicher Zivilisationsbruch, dessen Wesen nicht in seiner zeitlichen Dauer, sondern vielmehr in der Tiefe seiner Abscheulichkeit lag. Deshalb dürfen wir diesen Zivilisationsbruch nie ausblenden, wenn es darum geht, über deutsche Identität nachzudenken. Andererseits wäre es aber auch falsch, diesen Teil unserer Geschichte zum einzigen Bezugspunkt unserer nationalen Identität zu machen. Denn Identitätsbildung ohne positive Anknüpfungspunkte ist wenig erfolgversprechend.
Gerade die Union sollte dem Begriff Nation nicht aus dem Weg gehen. Die Union bekannte sich vor 1990 immer zur deutschen Einheit und hat gleichzeitig die europäische Einigung mit vorangetrieben. Für die Union war immer klar: Deutsche Einheit und europäische Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Dies aus gutem Grund. Denn die Geschichte hat uns gezeigt: Ein Europa der losgelösten Nationalstaaten mit einem starken geeinten Deutschland in seiner Mitte war immer ein instabiles Gebilde. Zwei Weltkriege, die von hier ausgingen, sollten uns Mahnung genug sein, nicht erneut ein solches Experiment zu wagen.
Genau aus diesem Grund dürfen wir die Definition von Nation und die Identifikation mit der Nation weder den Rechtspopulisten und -extremisten überlassen noch denjenigen auf der linken Seite, für die die Nation Teufelswerk schlechthin ist. Aus diesem Grund müssen wir selbst eine Antwort geben auf die Frage: Was bedeutet Nation im Zeitalter der Globalisierung, der Migration und des geeinten Europas? Darüber müssen wir eine offene, unverkrampfte Debatte führen mit dem Ziel einer zukunftstauglichen Fortentwicklung unseres Nationenbegriffs. Denn zwischen den beiden Extremen Negation und Überhöhung muss es ein Drittes geben, einen Begriff von Nation, der über jeden Verdacht des Völkischen erhaben ist und auch jeder aggressiv ausgrenzenden Färbung abschwört, der aber dennoch imstande ist, eine besondere – auch emotionale – Verbundenheit zu stiften.
Was wir brauchen, ist ein moderner, zeitgemäßer Nationenbegriff. Hierfür geeignet wäre aus meiner Sicht der Begriff der „Bekenntnisnation“. Dies wäre eine Nation, die alle einschließt, die sich zu ihr bekennen – gleich welcher Herkunft, welcher Hautfarbe und welcher Religion; die alle umfasst, die unsere grundlegenden Werte der Menschenwürde und Menschenrechte, der freiheitlichen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit teilen. Eine Nation, in der die Menschen Verantwortung tragen für das Gemeinwohl und sich einbringen für eine gute gemeinsame Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Eine Nation, zu der die Menschen in ungeteilter Loyalität stehen, in der sie Solidarität schenken und empfangen und die zu den guten wie auch schlechten Seiten ihrer Geschichte steht.
Die Bekenntnisnation grenzt sich ab von Nationenbegriffen, die in der deutschen Geschichte immer wieder hervortraten und zum Teil bis heute fortwirken, die für eine zeitgemäße und vor allem zukunftsgerichtete Selbstbestimmung allerdings wenig taugen.
Dies gilt beispielsweise für die Vorstellung von Deutschland als „Kulturnation“. Obwohl bis heute gebräuchlich – etwa in den Grundsatzprogrammen der Unionsparteien –, ist dieser Begriff problematisch. Kulturnation, das bedeutete einst mehr als nur ein Land mit einem reichhaltigen Kulturleben. In der Zeit vor dem Bismarckschen Nationalstaat verstand man darunter die staatlich nicht geeinte Gemeinschaft aller Deutschsprachigen mitsamt ihrer kulturellen Traditionen. Dem folgte die Selbstüberschätzung gegenüber den westlichen Nationen, vor allem gegenüber Frankreich, dem man zwar Zivilisation im Sinne eines seelenlosen Fortschritts, nicht aber Kultur im Sinne des „Guten, Edlen, Schönen“ zuschrieb. In der Gewissheit einer grundsätzlichen moralischen Überlegenheit sah man dazu Deutschland bestimmt. „Deutsche Kultur“ versus „französische Zivilisation“ lautete schließlich der Kampfruf deutscher Intellektueller während des Ersten Weltkriegs.
Dabei hatte sich die Kulturnation längst aufgemacht, sich notfalls mit Gewalt die entsprechende staatliche Form zu verschaffen – etwa mit der Vereinnahmung Elsass-Lothringens als deutschsprachige Regionen Frankreichs nach dem Krieg von 1870/71, später schließlich mit dem Anschluss Österreichs zu „Großdeutschland“. Wir sollten uns heute nicht darauf verlassen, dass ähnlich lautende Visionen für alle Zeiten ausgeträumt sind. Die Vorstellung von einer deutschen Kulturnation würde dem jedenfalls Vorschub leisten. Die Unionsparteien sollten aus diesen Gründen den Begriff der Kulturnation aus ihren Programmen streichen, dies zumal, wenn sie sich in der Tradition der Aufklärung mit universell gültigen Menschenrechten sehen.
Ein zeitgemäßer Nationenbegriff sollte vielmehr von den Menschen her gedacht sein, die sozusagen bewusst und willentlich gemeinsam die Nation bilden. Dies ist auch das Modell, das der französische Denker Ernest Renan, ein früher Beförderer der deutsch-französischen Partnerschaft im 19. Jahrhundert, beschrieb, als er sich die Frage stellte, was eine Nation ausmacht: „Es ist nicht das Blut, es ist nicht die Abstammung, sondern man muss sich dazu bekennen, man muss Franzose sein wollen . . . Es ist die gemeinsame Geschichte und vor allem die gemeinsame Erinnerung an diese Geschichte.“
Dass auch in Deutschland ein Nationenbegriff ohne Bezug auf die Geschichte weder denkbar noch wünschenswert ist, daran gibt es keinen Zweifel. Aber die Geschichte allein wird es als Bezugspunkt nicht richten, zumal im Zeitalter der Migration diese Geschichte eben gerade keine gemeinsame ist. Was uns jedoch einen kann, ist der Wille zur gemeinsamen Zukunft in Frieden und Freiheit, in einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft, in einem allgemein gesicherten Wohlstand und einer nachhaltig bewahrten Umwelt.
Eine solche Nation würde ein attraktives Integrationsangebot machen – gerade auch denen gegenüber, die ihre Wurzeln im Ausland haben und ihre Lebensperspektive dauerhaft in Deutschland sehen. Überdies würde sich unter dem Dach der Bekenntnisnation jede Diskussion über eine Leitkultur erübrigen. Leitkulturen bildeten sich übrigens eigendynamisch immer dann aus, wenn sie mit einer konkreten Zukunftserwartung verbunden waren. Bei der bürgerlichen Leitkultur des 19. und 20. Jahrhunderts war dies beispielsweise die Aussicht auf Überwindung von Not und Elend. Für uns heute könnte es die skizzierte gemeinsame Zukunft sein, aus der sich zwangsläufig die Notwendigkeit einer bestimmten Haltung ergibt. Ohne Fleiß, Zielstrebigkeit, Disziplin, Aufrichtigkeit, ohne Respekt, Rücksichtnahme und Solidarität werden wir eine freiheitliche, prosperierende und menschliche Zukunft nicht gewinnen. Und wo es um gezielte Verstöße gegen die Grundprinzipien unserer freiheitlich demokratischen Ordnung geht, bedarf es eines starken, durchsetzungsfähigen wie auch durchsetzungswilligen Staates.
Der Begriff der „Bekenntnisnation“ erlaubt eine positive Identifikation für alle Menschen in unserem Land. Er eröffnet eine Zukunftsperspektive, für die man, wenn sie leidenschaftlich und glaubwürdig vermittelt wird, Begeisterung und Engagement entwickeln kann. Er gibt die Antwort auf die Frage, was es heute heißt, Deutsche und Deutscher zu sein. Und Menschen mit zum Beispiel türkischer Abstammung, die sich hierzu bekennen, sind auch keine „Deutsch-Türken“ oder „Türken mit deutschem Pass“ mehr, sie sind Deutsche und nichts anderes. Sie sollten als solche anerkannt werden, sie sollten sich als solche aber auch selbst definieren.
Das bestehende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht liefert hierzu den geeigneten rechtlichen Rahmen – außer im Punkt einer allgemein zugänglichen doppelten Staatsangehörigkeit. Denn das Bekenntnis im Begriff der Bekenntnisnation ist nicht teilbar. Die Loyalität muss eindeutig sein. Ansonsten bleiben wir auf dem Weg zu einer modernen gemeinsamen Nation, die alle einschließt, auf halber Strecke stehen.
Die Bekenntnisnation lässt sich freilich nicht in eine rechtlich verbindliche Form gießen. Der Staat kann das Bekenntnis nicht erzwingen. Das macht sie aber keineswegs überflüssig. Vielmehr wäre sie eine Art ideeller Überbau als Selbstbild einer Nation, die weder eine regionale Identität verdrängt noch einer europäischen Einigung im Wege steht. Es spricht viel dafür, dass dieser Begriff von Nation einen Beitrag zu mehr Unbefangenheit und Gelassenheit im Umgang mit uns selbst leisten würde. Dies wäre nicht nur in unserem, sondern vor allem auch im Interesse unser Nachbarn und Partner. Auch ihr Bedarf an einem ewigen deutschen Sonderweg ist ganz sicher begrenzt. Es ist Zeit, dass wir eine normale Nation werden.
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